ASV Dachau 2 Saison 22/23 – Prolog
Es war ein lauer Frühlingsabend als der Spieler des ASV Dachau II sich zu seinem Fahrradschloss bückte, um es aufzuschließen. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne reflektierten sich im Seitenspiegel des PKWs neben ihm und blendeten den Handballer. Kurz darauf traf er sich mit einigen Mannschaftskollegen und zusammen machte sich die Gruppe fröhlich schwatzend auf den Weg zum Griechen um die Ecke. Dort sollte die Mannschaft nämlich am gleichen Abend das erste Mal auf ihren Trainer für die kommende Saison treffen. Noch in ihr Gespräch vertieft kamen die Jungs am Zielort an, vertäuten die Fahrräder und betraten das Etablissement, nichtsahnend, was ihnen im Inneren blühte.
Einmal in die Stube getreten, stob den Spielern ein schwall von Zigarrenrauch und verbrauchter Luft entgegen. Schlagartig verstummte die Truppe und ein ungutes Gefühl breitete sich unter ihnen aus. Im hintersten Eck des Zimmers saßen zwei unscharf umrissene Gestalten. Die wabernde Beleuchtung der aufglimmenden Räucherstangen, die das Duo in den Händen hielt, genügte nicht, um ihre Gesichter erkennbar zu machen. Kaum hatten die Spieler voll Demut ihre Plätze eingenommen erhob sich auch schon eine der Gestalten. Hillerbrand erkannte die Gestalt: „Ach du bist’s nur, Flo!“. Er atmete erleichtert auf. Doch die Atmosphäre entspannte sich keineswegs. „Ruhe im Saal!“, wetterte der Angesprochene. „Flo“ trug eine schwarze, plissierte Robe mit Samtbesatz und Jabots aus weißen Spitzen. Auf seinem Haupt thronte eine gelockte, weiße Haartracht, die zu schief saß, um natürlich wirken zu können. „Den Anwesenden wird vorgeworfen, den schmachvollen Abstieg in die Bezirksklasse mitverantwortet zu haben. Is scheiße, brauch‘ ma ned reden! Eine Negativkompensation von minus 15 Social Credit Points wird auf das Konto der Angeklagten verhängt“. Mit einem übergroßen Richterhammer drosch er energisch mehrmals auf die Tische ein, sodass die Wirtin des Griechen vor Sorge um ihre Einrichtung die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Dann richtete er sich die Haarpracht zurecht und verließ die Wirtschaft ohne ein weiteres Wort und mit erhobenem Haupt.
„Ist das gerade wirklich passiert?“, flüsterte Schwalbe mit zitternder Stimme. „Ich bin mir nicht sicher, ob er denkt, wir hätten ihn in seinem Aufzug nicht erkannt“, gab Mooseder zu bedenken. So entstand eine nervöse Diskussion, die langsam den Raum ausfüllte. Nach wenigen Minuten hörten die Spieler ein leises, aber bestimmtes Räuspern und die Gespräche verstummten abrupt.
Die zweite Gestalt hatte jedoch einen weitaus weniger dramatischen Auftritt gewählt und stellte sich freundlich als der neue Trainer Andreas Reuschel vor. Nach einer Vorstellungsrunde mit anfänglichen überregionalen Verständigungsproblemen („I bin da Maxe und i kimm aus Hoizkiacha.“ – „Schön! Hallo Maxi! Und wo kommst du her?“) und nachdem der Trainer auch letzte themenfremde Diskussionen unterbunden hatte („Yo Leude! Wetten, dass ich heute ne Vorspeisenplatte und n Gyros Metaxa schaff, ohne grün im G’sicht zu werden?“), stellte Andi auch schon seine Pläne für die kommende Saison vor. Neben dem ausdrücklichen Ziel die Mannschaft als solche, aber auch die Spieler individuell weiterzubringen, stellte der Coach auch neue Strategien zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Herrenmannschaften vor. Demnach sei der moderne Handballer ganz nach Vorbild der 2SLGBTQIA+-Bewegung „Spielklassen-fluid“, identifiziere sich also nicht mit einer von gesellschaftlichen Konventionen vorgegebenen und ihm zugeordnete Spielklasse, sondern bewege sich auf einem Spektrum derselben und passe Leistung und Mindset seiner aktuellen Gefühlssituation an. Nach dieser Ausführung seiner Pläne herrschte zunächst Stille im Wirtsraum. Stirnrunzelnd blickten die Spieler umher. „Hast du des jetz verstanden? Kommt mir irgendwie äonisch vor.“, flüsterte Focke seinem Nebenmann zu, der wiederum den Kopf schüttelte. Reuschel hatte die Frage gehört und passte seine Rhetorik geschickt noch einmal seinem Publikum an: „Also: Aushelfen in der Ersten, wenn nötig. Alles geben im Training und wenn’s fürn Aufstieg reicht, geb ich nen Kasten aus!“. Die letzten paar Worte des Trainers gingen jedoch schon im euphorischen Gegröle der Mannschaft unter. Ob die Euphorie tatsächlich vom Motivationsschub kam, der durch die Rede ausgelöst worden war oder doch davon, dass die Spieler sich freuten, auch einmal verstanden zu haben, was der Trainer ihnen versuchte mitzuteilen, hinterfragte der Coach bewusst nicht mehr. Er spürte, dass die Mannschaft ihn als einen der Ihren akzeptierte und hatte somit sein Primärziel erreicht.
Als sich die kleine Splittergruppe der Mannschaft wenige Stunden später wieder auf ihr Fahrrad schwang, um sich auf den Heimweg zu machen, hatten sich ihre Erwartungen zur kommenden Saison ein wenig verändert. Vielleicht, aber nur vielleicht, machte der neue Trainer den entscheidenden Unterschied. Vielleicht war in dieser Saison mit genügend Arbeit auch wirklich noch was drin…